Mein persönliches G8-Tagebuch


Hier folgt das persönliche G8-Tagebuch von Ole Welzel.
Ein Rostocker Bürger, der sich ungefragt als Gastgeber missbraucht fühlt.

 

Samstag, 2.Juni 2007
Nun ist er also da, der G8-Gipfel. Uns Bürger in Rostock hatte man nicht gefragt, ob wir ein großes Stück der Küste abgeben wollen, ob wir 13 Millionen Euro für den dafür erforderlichen Zaun bezahlen wollen, teurer als eine Wohnsiedlung zu bauen, bei der viele Arbeit hätten. Die Polizei sagt, dass sie die ganzen Auflagen auch nicht gewollt hätten, aber die Amerikaner würden sonst nicht kommen. Es seien deren Auflagen. Über 100 Millionen Euro soll der Gipfel kosten, das meiste von unserem ärmsten aller Bundesländer bezahlt. Dabei knabbern wir noch an der „privaten Einladung“ Angela Merkels zur Grillparty nach Trinwillershagen vom Vorjahr.

Hier zahlt jeder seine privaten Partys selbst. Deshalb verstehen wir Rostocker das nicht, auch nicht, weshalb man sich nicht jetzt auf einem Flugzeugträger trifft. Da kommen die Autonomen nicht hin und es kostet viel weniger. Aber wir ertragen das neue Wandlitz mit Langmut, auch wenn der wirtschaftliche Nutzen für uns nicht erkennbar ist, auch wenn im Gegenzug durch Kürzungen bei der Bildung mehr qualifizierte Jugendliche das Land für immer verlassen werden. „Halte den Ball flach,“ sagt man hier und „wird schon.“ Seit 57 Jahren oder noch länger ist man es gewohnt, „die da oben“ nicht zu verstehen. Man nimmt das hin. Mecklenburg-Vorpommern ist ein friedliches Land.

Deshalb sorgt man sich hier ängstlich, dass es anders werden könnte: „Geschlossen wegen 8 Touristen“ steht auf einer Spanplattenwand in der Grubenstraße, die einmal ein Schaufenster war, daneben beim vernagelten Nagelstudio: „Wir feilen weiter“. Die Wäsche wird abgenommen, Kinder von der Straße geholt. „Ich will ja keine Panik verbreiten,“ sprach eine Freundin, meldete die Tochter in der Schule ab und fuhr, wie alle die konnten, zu ihren Eltern aufs Land. Wir nehmen es mit Humor. Noch!

Parkplätze im Überfluss: Um 10 Uhr trifft man im Szeneviertel weder Menschen noch Autos auf den leergefegten Straßen. Wenn jetzt noch ein Mistelball um die Ecke wehen würde, wäre es die perfekte Kulisse für einen Italo-Western, denn es liegt eine gespenstige Stille im Viertel. Wie kommt die atmosphärische Spannung in dieses friedliche Bild?

Die Stille wird durchbrochen: Wieder demonstriert der Helikopter über dem Viertel Lufthoheit, wie in den Vortagen, dröhnt lauter als jeder Rasenmäher, als gäbe es keine Lärmschutzvorschriften für die Polizei, als gäbe es keine anderen Möglichkeiten zur Beobachtung. Lärm macht krank, macht langsam aggressiv. Gibt es noch ein paar Raketen von Sylvester? Wo bekommt man Helium für die letzten Ballons vom Kindergeburtstag, mit einem Zettel dran: „Ruhe!!!“. Ich bin nach vier Stunden Helikopterlärm überreizt. Wie weit reichen die Wasserpistolen der Kinder? Ansonsten ist hier alles friedlich.

Die Familie beschließt, in den nahen Stadthafen zu gehen. Dort sollen zu einem großen bunten Abschlussfest „Juli“ und „Wir sind Helden“ spielen. Auch Lärm. Aber mit der Anmutung von Musik. „Wenn’s hilft.“ Der Geldautomat der Deutschen Bank hat „wegen Renovierung“ geschlossen. Kein Monteur zu sehen. Aber die Commerzbank daneben hält, was der Name verspricht.

Die Friedrichstraße runter zum Stadthafen ist autofrei, das hatte es noch nie gegeben. Plötzlich rasen mit Blaulicht und Horn 42 Mannschaftswagen an uns vorbei durch die „Tempo 30-Zone“, schaffen gerade so die Kurve zum Stadthafen. Ich reiße ich die Kinder zurück, brülle meine Frau an, zum Glück wird niemand überfahren. Plötzlich Angst! Das erste Horn habe ich noch eingesehen, aber warum müssen auch alle anderen 41 Wagen bedrohlichen Lärm verursachen, der sich gellend in meine Trommelfelle verbeißt wie eine übersteuerte Soundanlage?

Meine Tochter schreit panisch im Kinderwagen, die Jungs rufen aufgeregt, meine Frau kommentiert, der Tinitus in meinem Ohr übertönt den Hubschrauber, Ich schreie die Wagen an: „Ruhe!“ Sie hören nicht zu. Niemand hört mehr zu, heutzutage. Ich bin hilflos diesem G-8-Gipfel ausgesetzt.
Man hat mich nicht gefragt. Dieser ständige Lärm. Nunmehr 6 Stunden dieser Hubschrauber über mir. Kein Entrinnen. Blanke Nerven. Hätte ich die Frühstückseier für morgen schon auf dem Hinweg gekauft, hier würden sie fliegen.


Hat schon einmal eines meiner Kinder gesehen, dass ich die Contenance verliere? Jetzt kann die Wut nicht mehr unterdrücken. Martialischen Fremden rasen vorbei, verfehlen uns knapp, wehe dem, der im Weg steht, Motoren brüllen auf, Sirenentöne brechen sich, kommen schrill als Echo zurück, bohren sich in mein Gehirn. Sie rasen vorbei wie Hunnen, die in die Stadt einfallen, gepanzert, schwarzvermummt. Ihre Angst sieht man nicht hinter den Visieren: Menschen, auch wenn sie nicht so aussehen.

Man hat uns nicht gefragt, ob wir das alles wollen. „Das ist Demokratie,“ höre ich meine Frau kommentieren, sie zeigt auf das große Volksfest, dass sich nun vor uns am Stadthafen zeigt: Bunte Menschen, auch ein bunter Flower-Power-Panzer, alles Lärm.

Etwas weiter acht Menschen mit den Flaggen der G8-Mitgliedsstaaten: „Blah blah, blahblahblah ... „rufen sie in Handys und in die Menge, während sie weitere Glieder für eine Kette schmieden, die einen stählerner Globus bereits umhüllt, bewacht von einem Mann mit Stars and stripes. Der wird wenig später ganz normal ein Dixie-Clo aufsuchen. Was für ein Bild!

Ich ertrage es aber nicht mehr, irgendjemanden zuzuhören, wünsche mir taub zu sein und noch immer hat dieser verdammte Hubschrauber seit 6 Stunden die Lufthoheit über meine Nerven und Trommelfelle.

Partylärm, Rasenmähen, Grillgeruch, alles ist hier gesetzlich geregelt, sonst schreitet die Polizei ein. Da sind vor dem Gesetz alle gleich, aber in den letzten Jahren sind wohl einige gleicher geworden. In meiner Phantasie mache ich in Handschellen ein Viktoryzeichen, wie es schöner nur Ackermann kann, dahinter das rauchende Wrack des abgeschossenen Hubschraubers. Wohin aber in der Wirklichkeit?

Etwas weiter bedient ein GI eine Ölförderpumpe, während er eine Benzin-Zapfpistole wie eine Waffe in die Menge richtet, um sie „in Schach“ zu halten. „Nur die Arbeiterrevolution kann den Kapitalismus besiegen“, neue Flugblatt-Verteiler nehmen zu, die Parolen sind alt. Um Arbeiter zu sein muss man wenigstens Arbeit haben.

Auf der Bühne gibt es keine Musik, auch nicht Juli oder „Wir sind Helden“. Reden, Grußadressen, die alten Formeln. Wenigstens die Titel der gegrüßten Personen nicht mehr so lang, es hat sich also etwas geändert. Sonst ist alles gleich, auch der Hubschrauber.

Die Kinder frieren: 11°C, leichter Nieselregen und sie wissen nicht, was das mit Demokratie zu tun hat. Auf der B 105 neben dem Stadthafen blitzen die Blaulichter der unzähligen Mannschaftswagen und der Wasserwerfer. Plötzlich, anscheinend unmotiviert spritzen sie los. In die Menge. Angst macht aggressiv: Wut kommt hoch und wird mühsam unterdrückt. Wir gehen Eier kaufen. Zum Frühstück!

Gespenstige Stille in unserem Viertel, noch immer kein Mistelball, kein Cowboy kommt um die Ecke, nur ein paar befreundete Geschäftsleute, die ihre Läden bewachen und ein Hubschrauber über mir.

Wir sehen zu Hause Fernsehbilder, die wir nicht sehen wollten: 2000 Autonome unter 50.000 friedlichen Demonstranten. Eine Demonstrantin brüllt einen Steinewerfer an: „Hört auf“, der kommt auf sie zu: „mag disch platt ey!“. Das bringt alles auf den Punkt!

Wieder sind es Zugereiste von oben und unten, die den Ruf Rostocks demolieren: Das wird dem Tourismus wieder schaden, wie damals in Lichtenhagen beim Sonneblumenhaus.

Tinitus im Ohr, Hubschrauberlärm bis in die Wohnung, lauter als der Fernseher, meine Frau kommentiert den TV-Kommentator, die Kinder fragen und reden, Geschirr. Alles gleich laut, alles unerträglich. Ich gehe, um diesen Tag auf zu schreiben, aber eigentlich gehe ich, um wenigstens einen Teil der Geräuschquellen nicht zu haben. Dem Hubschrauber kann ich nicht entkommen, er brummt durch die Wände und ab und zu knattern die Rotoren, dass die Scheiben vibrieren.

Wir sind ein friedliches Land. Man hat uns nicht gefragt, ob wir das alles wollen. Es ist 22.15 Uhr und noch immer kreist lärmend dieser Hubschrauber. Ich werde Morgen das Haus nicht verlassen. Ich will die Polizei schützen. Vor mir. Was wäre, wenn mir einer eine Waffe in die Hand drückt?

Man hat uns nicht gefragt. Man macht einfach etwas mit uns. Angeblich von uns legitimiert. Das ist es, was man den G-8-Vertretern vorwirft. Weltweit. Auch den Autonomen. In Afrika ist es noch schlimmer.

Ansonsten ist hier alles friedlich, auch wenn die Fernsehbilder anderes zeigen. Auch nach Fußballspielen gibt es einen gewissen Prozentsatz, der sich nicht beherrschen kann. Wir können das alle hier. Wenn nur der Hubschrauber nicht wäre. 24 Uhr: Er fliegt seit 14 Stunden über mir. Noch. Morgen schieße ich ihn ab... Oder doch nicht?



Sonntag, 3.Juni 2007
3°° Uhr: Der letzte Hubschrauber dreht ab. Endlich kann man schlafen.
Morgens um 6.30°° sind die ersten Kinder wach. Sie haben schlecht geschlafen. Wir alle sind durch den Wind. Auch bei der ersten Zigarette draußen ist es nicht still: Es brummt in der Frequenz des Hubschraubers in meinem Ohr. Höre ich einen in der Ferne nur, setzt ein Pfeifen ein und meine Pulsfrequenz erhört sich. Kündigt sich der nächste Hörsturz an?

Um 11°°Uhr geht es zum Brunch zur Schwägerin. Es gibt nur ein Thema: Das, was alle die Zugereisten mit uns machen. Nein, ich werde auch heute keinen Hubschrauber abschießen, ich bin mit mehreren Polizisten befreundet. Aber wo soll ich hin mit all den aufgestauten Aggressionen? Die Wut macht etwas mit uns, wir aber entladen sie nur in der Phantasie.

Gewaltphantasien, die auf der Gewalt beruhen, die wir erfahren. Auch andere bestätigen dies.
Es war heute morgen leer und ruhig in unserem Szeneviertel, gespenstig ruhig, nicht friedlich ruhig. Die wenigen Menschen hatten alle angespannte Gesichter, das heitere, freundliche Lachen, mit denen sich hier sonst selbst die Grüßen, die sich nur vom Sehen kennen, ist verschwunden. Die Stille hat „High-Noon Stimmung“. G-8 hat uns Rostocker in Geiselhaft genommen. In Afrika macht ihr es wohl noch schlimmer, aber dies reicht schon.

Seit gestern sind auch die letzten hier G-8-Gegner geworden. Natürlich verurteilen wir alle zuerst die Autonomen. Sie bekämpfen nicht den Staat, sondern uns: Auch in unserem eher linken Viertel, in dem niemand wirklich reich ist, viele auch arbeitslos, hat man unsere (!) Mülltonnen angezündet. Es liegt Brandgeruch in der Luft. Direkt vor der Toreinfahrt unseres Innenhofes liegt lindgrünes Auto-Krümelglas, dabei habe nur 2 kleine armselige Autos dort geparkt, keine „Bonzenautos“, wie die Autonomen sagen würden.

Alle Autonomen? Was gibt uns die Möglichkeit, noch Unterschiede zu machen? Sie sind ja vermummt und sehen genauso unmenschlich aus, wie die grünen Starwars-Krieger, deren menschliches Antlitz, deren Angst man hinter den Visieren nicht erkennt. Aber was wäre, wenn sie nicht so gerüstet wären?
Von uns Rostockern gibt es viel Respekt für die Polizei. Das ändert nicht daran, dass wir meinen, dass auch sie zu unserer Situation beitragen. Müssen. Aber nicht ertragbar. Wir wissen seit gestern, wie sich das leicht luftige Wort anfühlt: Wir sind Kolateralschaden!

Ich denke an den Motorradfahrer der Polizei aus Hannover, den ich gestern, auf dem Rückweg vom Stadthafen an der Kreuzung „Pati-Weg“/Friedrichstraße sah: Allein!!! Angst war in seinem Gesicht. Klar: was wäre, wenn eine Gruppe ihn von allen Seiten umzingeln würde? Er käme allein nicht mehr weg und nach den Fernsehbildern ist nicht auszuschließen, dass es Menschen gäbe, die ihn totschlagen würden. Ich hatte extra laut zu meinen Söhnen gesagt:“ Der kommt aus der Stadt, in der ich studiert habe.“ Da entspannte sich sein Gesicht zu einem Lächeln. Für einen kurzen Moment.

Aber nun fliegt der Hubschrauber wieder. Der Tinitus verstärkt sich, die Pulsfrequenz erhöht sich. Meine Hände zittern. Ich bringe die Jungs nach Hause, allein sollen sie nicht mehr gehen, die paar Meter. Sie sind nur noch quengelig, sie können sich inzwischen nur noch schreiend verständigen und nicht mehr zuhören. Und ich bin eigentlich ein ruhiger alter Mann, inzwischen mit Hubschrauber-Allergie.

Nachmittags gehen wir durch unser bestbewachtetes Viertel durch den nahen Lindenpark. Etwas Ruhe. Etwas nur. Hofgang. Sie sind unausgeschlafen, quengelig, gereizt wie wir alle. Vor allem müssen sie einmal raus und sich bewegen können, man kann sie nicht immer nur einsperren: Eine Ahnung von Kriegsgebieten schleicht sich ein.

Man hat uns nicht gefragt, ob wir das wollen. Merkel kommt mit ihren Kollegen, wieder zahlen wir. Wir sollen Verständnis dafür haben? In dem Wort Staatsgewalt hat der zweite Teil des Wortes eine neue Bedeutung bekommen, riecht nach Zynismus. Angie hat ihrer Partei in diesem Land einen Bärendienst erwiesen.

Das ist weder Wirtschaftsförderung noch Werbung, es ist ihr Desaster in Rostock! Danke, Angie. Oder lädst Du uns und unsere Nachbarn zum Ausgleich zu einer „Privatparty“ nach Trinwillershagen ein? (Ich meine: diesmal auf Deine Kosten?) Schäbig und zynisch finden wir Dich inzwischen alle: So verhält man nicht in unserem Land!

Abends schläft die Kleine, das Baby nicht. Hubschrauberlärm, gellendes Babyschreien, gereizte Eltern. Draußen skandiert eine Gruppe nach dem Jan Delay-Konzert irgendwo „Haut ab!“ „Haut ab!“ „Haut ab!“ „Haut ab!“ „Haut ab!“ „Haut ab!“

Ja bitte! Alle!!! Haut alle ab: Die friedlichen vielleicht, die Autonomen sowieso und bitte, liebe Polizei, auch Eure Hubschrauber: Sie sind gesundheitsschädigend und zynisch. Erst um Mitternacht kommen wir zur Ruhe.


Montag, 4. Juni 2007
5°° Aufstehen. Arbeitstag. Es brummt und pfeift im Ohr. Die Knöchel dahinter schmerzen. Mir ist schwindelig. Ich fahre früher los, weil ich nicht weiß, ob ich durchkomme. Es fehlen 30% der Schüler. Einige kommen ab 5°°Uhr von Rerik. Sie müssen durch Heiligendamm: Spiegel unter dem Bus, Passagiere durch Sicherheitsschleusen. Der Bus kommt nicht pünktlich. Der Busfahrer sagt, dass heute der letzte Bus schon mittags fährt. Sie verpassen 2 Unterrichtsstunden. Der Bus kommt sonst nicht mehr durch. Ein Land in Geiselhaft.

Ich bitte um etwas mehr Ruhe als sonst, erzähle von dem Hubschrauber am Samstag.
In der 8. Stunde aber können sie nicht mehr. Ich dann auch nicht. Das Brummen und Pfeifen im Ohr hört nicht mehr auf, auch die Schmerzen in den Knochen dahinter nicht und die Schwindelanfälle.

Alle sind sich hier einig: Angela Merkel sollte sich in der nächsten Zeit nicht mehr hier blicken lassen: „Sie hat uns das eingebrockt!“ Das sagen Schüler und Lehrer.

Sie haben vergessen, dass es Schröder war und Frau Merkel hier eitel die Sache benutzt. In Rostock ist ihr das auf die Füße gefallen. Sie ist offensichtlich in ganz Rostock und in allen Schichten unten genau so durch wie die Autonomen: In einem Atemzug gemeinsam genannt.

Einer sagt: „In einer Diktatur würde es so etwas nicht geben.“ Er meint die Autonomen. Das ist es, was die erreichen.

Seit der 4. Stunde kreisen wieder die Hubschrauber auch um unsere Schule. Ein Lager ist gleich in der Nähe. Freitag war es der Rasenmäher, dann Hubschrauber. Ich lasse die Schüler abskizzieren und abschreiben, denken und zuhören können sie inzwischen nicht mehr. Immer wieder geht es darum, wie sie nach Hause in ihre Dörfer kommen, ob die S-Bahn noch fährt. Mache müssen nach Lichtenhagen und haben über ihre Handys gehört, dass am Sonnenblumenhaus Wasserwerfer stehen. Wieder. Wieder bringen fremde das Land in Misskredit. Weltweit.

Auf der Hamburger Straße komme ich um 15°°Uhr auf dem Heimweg durch. Eine Einheit aus Mecklenburg-Strelitz schaltet neben mir das Martinshorn an, ich falle zwar fast vom Fahrrad, aber es sind nur die ersten zwei Wagen. Muss sein. Die anderen Wagen fahren nur mit Blaulicht hinterher: Geht doch (siehe Freitag)! Ihr Mecklenburger Landsleute, Danke! Ihr versteht uns!

Das Vorschulkind ist traurig, als ich es vom Kindergarten abhole: Der Ausflug zum Imker nach Bargeshagen konnte nicht stattfinden. Wegen G-8! Er weiß aus eigenem Erleben und aus den Logo-Nachrichten (Kika), was dahinter steckt. Er hat inzwischen Angst vor „den Demonstranten“ und der Polizei. Mama hatte gesagt, „Das ist Demokratie“, als wir Samstag das bunte Volksfest am Stadthafen besucht haben. Wahrgenommen hat er die Wasserwerfer und die 42 Mannschaftswagen, die ihn beinahe überfahren hätten. Demokratieverständnis? Danke Frau Merkel, dass sie uns und unserem Land so schön in den Rücken fallen. Da gibt man sich als Eltern solche Mühe.....diese Bilder werden hängen bleiben und etwas mit ihm machen.

Der größere ist verschlossener geworden, agiert nur noch ziemlich stumm. Sein leiblicher Papa ist Kameramann, er war für Phönix mitten zwischen den Autonomen, als es anfing zu brennen. Er hat Angst um ihn.

Eine Tasse Kaffee nur, ich muss zur Unibibliothek und dann zum Arzt. Ich komme gerade noch durch, am Ulmenmarkt, dann geht schon wieder eine Demo los. Die Fernsehbilder muss ich nicht kommentieren. Ich komme irgendwie durch mit dem Fahrrad, dass Auto lasse ich seit Freitag im geschützten Innenhof stehen. Die Zeit läuft mir davon: 16°°Uhr und noch immer keine Pause seit heute Morgen. Am Ulmenmarkt fahren die Wasserwerfer auf.

Ich gehe zu Fuß zum Ohrenarzt in unserem Viertel: Massiver Tinitus, kurz vor einem erneuten Hörsturz, weiterer Gehörverlust von 10% seit dem Hörsturz vor einem Jahr: Ich bin nicht der einzige, der heute damit krankgeschrieben wird. Ich habe Nachbarn im Warteraum getroffen, auch Kinder.
Danke, Frau Merkel, danke auch den Hubschrauberpiloten. Wisst Ihr, was ihr mit uns macht?

Ich muss an den Tropf: Infusion. Ich bin der letzte Patient. „Gehen sie nach Hause und ruhen sie sich aus,“ hatte der Arzt gesagt. „Wie, wenn ein Hubschrauber über dem Haus steht?“ Aber ich komme gar nicht erst raus: Vor dem Haus bauen sich plötzlich zwei Wasserwerfer auf. Eine Sprechstundenhilfe wird heute nicht nach Hause kommen: Die S-Bahn fährt nicht mehr und ihr Mann kommt in das abgeriegelte Viertel nicht mehr rein. Zum Glück hat sie eine Freundin in der Nähe. Der Arzt muss jetzt zum Notdienst ins Bahnhofsviertel. Mit dem Fahrrad, anders geht hier nichts mehr, auch durch den Lindenpark nicht. Wir alle müssen warten. Draußen brennt es irgendwo, es riecht versengt, wahrscheinlich imperialistische Mülltonnen „der Bullen“ oder „des Staates“. Wir werden die Scheiße wieder selbst einsammeln. Danke Gäste, Mecklenburg ist ein gastfreundliches, weltoffenes Land.

Zu Hause komme ich nicht mehr zur Ruhe: Bis 23°°Uhr lösen sich die Hubschrauber ab. Unser Baby schreit, kann nicht einschlafen, die Jungs hören nicht mehr, sie brüllen nur noch, ich kann auch nicht mehr und schreibe meinen Frust auf. Das Arbeitszimmer ist der ruhigste Ort im Hubschrauberlärm, der von oben kommt und von den Nachbarhäusern um uns verstärkend reflektiert wird.

Immer wieder wenn der Ablösehubschrauber anfliegt nehme ich einen 500 Watt Scheinwerfer und ziele auf sie: Guck mal, hier ist ein Wohngebiet. Hier wohnen Bürger mit Kindern. Salo! Akt der Verzweifelung. Dann stelle ich mir vor, dass mich dafür wie bei den Blues Brothers schwarzvermummte Soldaten umzingeln, festnehmen und in Isolierhaft bringen, wo es ganz still ist. Das ist mir eine satirische, zugleich wunderschöne Phantasie geworden. Oh bitte: Verhaftet mich. Sperrt mich ein. Dort wo es still ist. Was muss ich dafür tun?

Ich bin mit den Nerven am Ende: 3 Tage Hubschrauberlärm 70-100m über mir. Drei Tage brummen und Pfeifen im Ohr, zu wenig Schlaf. Das hält keiner aus. Das ist Psychoterror. Was habe ich denn verbrochen, außer hier zu wohnen?

Das Baby schreit. Es schläft inzwischen nicht mehr durch. Keine Erholung mehr für uns alle, auch dann nicht, wenn wenigstens die Hubschrauber weg sind. Wie lange geht das noch so?


Dienstag, 5. Juni 2007
7.30 Uhr: Leichter Regen fällt auf die Blätter, ein paar Sonnenstrahlen geben dieser Idylle einen edlen Glanz. Es ist eine friedlich Atmosphäre. So schön kann Regen sein, so schön kann Rostock sein. Ich genieße die Ruhe: von dem Brummen und Pfeifen in meinem Ohr abgesehen ist es ganz still. Stiller als sonst. Die Vögel singen nicht mehr.

Wer von uns konnte, hat das Viertel verlassen. In den Schulen fehlen 30% der Schüler, viele Geschäfte sind geschlossen, vernagelt. Hier ist nicht Afghanistan, es fallen uns keine Bomben auf den Kopf, unsere Häuser und Äcker werden nicht verwüstet, aber wir haben eine Ahnung bekommen, wie sich das anfühlt.

Ich bin fahrig geworden, laufe gegen eine geschlossene Tür, vergesse die Infusionslösung zu besorgen, bevor ich zum Arzt gehe. „Normalerweise haben wir immer welche auf Vorrat,“ sagt die Sprechstundenhilfe, „aber wir haben alles Verbraucht, Es sind jetzt so viele hier.“ Ich gehe also wieder los. In den Apotheken heißt es: „Die haben wir nicht mehr. Die müssen wir bestellen. Heute Mittag, wenn der Lieferant durchkommt. Gestern kam er nicht durch.“ In der fünften, entferntesten bekomme ich schließlich das Rezept eingelöst.

„Mein Sohn, zehn Jahre, hat sich gestern auf dem Heimweg von der Schule am Doberaner Platz eine Cola gekauft,“ erzählt eine Patientin. Draußen sei eine Rangelei gewesen. Gerade als er das Getränk erhalten habe, seien zwei Polizisten von hinten an ihn herangetreten und hätten ihm einen amtlichen Zettel in die Hand gedrückt, erhabe die Stadt sofort zu verlassen und dürfe sie erst Morgen wieder betreten. Wo er denn hin solle, habe ihr Sohn gefragt, er würde doch hier wohnen. „Zehn Jahre alt,“ bekräftigt sie noch einmal.

Andere berichten von willkürlichen Übergriffen auf Passanten, Bürger dieses Viertels. Die Gereiztheit steigt auf beiden Seiten. „Und heute Abend sitzen sie da wieder im Fernsehen, Schäubele und Co., der Ringstorf, der Polizeisprecher, beraten die richtige Kriegsführung, Gummigeschosse oder nicht? „Niemand fragt in den Medien, wie es den Rostocker Bürgern geht, niemand dankt für ihre Geduld. Wir kommen in den Medien nicht vor,“ sagt „ein Tinitus“ im Warteraum des Arztes.

„Täter sind Autonome, Opfer sind Polizisten, wir sind nur die, die das bezahlen sollen,“ sagt einer. Und die Merkel sagt gar nichts. Sie hat einen Wahlkreis in unserem Bundesland. Die Sprechstundenhilfe kommt herein: „Die da oben sind doch alle auf einem anderen Stern.“

„Gerade kam in den Nachrichten, der Bush hat gesagt, ihn interessieren die Demonstranten nicht, er geht ja heute Essen.“ Manche Gesichter ballen sich zur Faust, verbittert.

„Und wie die da reden, die da oben, die waren doch nicht hier!“ In der Tat merkt man es den Kriegstaktikern im Fernsehen an: Die Argumentation ist ideologisch, ihre Detailwissen knapp.

„Um uns kümmert sich hier keiner, wir dürfen nur bezahlen!“

Das Verständnis für die Polizisten weicht am heutigen vierten Belagerungstag langsam auf. „Die sind inzwischen auch genervt und gereizt,“ werfe ich ein. „Wir auch!“ Politikverdrossenheit, auch Demokratieverdrossenheit macht sich gerade unter den ältern breit. Am nächsten Wahltag werden sich die Kandidaten wieder darüber wieder wundern, auch über den Stimmenzuwachs bei der NPD. „Bis die da oben aufwachen,“ sagt einer.

Wenn heute Ringstorf, ein Bundespolitiker oder sogar die Merkel sich auf den Margaretenplatz stellen würde, um mit uns zu sprechen, uns zu danken, der könnte punkten. „Ich bin ein Rostocker!“, wird Bush heute nicht sagen. „Wir sind Kolateralschaden!“, wird auch morgen die Bildzeitung nicht titeln:

„Das ist doch wenig, verglichen mit dem, was Eure Regime in der dritten Welt machen“, rechtfertigen sich Autonome und wenn wir das Abbrennen unserer Autos und Mülltonnen beklagen: „Ihr seid eben Spießer!“ „Wir können Euch nur so schützen,“ werden die Hubschrauberpiloten sagen. „Das ist Vorschrift“, sagen die grünen Starwarskrieger „und Befehl.“ „Wir halten dafür unsere Knochen hin!“ Die Merkel wird wieder gar nichts zu uns sagen.

„Aber warum seid ihr alle denn überhaupt zu uns gekommen?“, fragen wir am 4. Tag der Geiselhaft.
Warum besetzt ihr unsere Stadt und führt Krieg gegen uns?

„Geht bitte. Alle!!! So schnell wie möglich,“ sagen viele, „und friedlich!“

Am Nachmittag fällt die Musikschule aus: „Zu gefährlich“, auch der Ausflug der Vorschule. Die Kinder sind traurig, ich weniger. Bei plötzlichen Krawallen am Doberaner Platz sind Kinder zwischengeraten. Da nimmt niemand mehr Rücksicht auf sie. Heute wird ein ruhiger Tag bleiben, in Rostock.

Eine befreundete Journalistin ist zu Besuch gekommen. Sie erzählt von abgeschalteten Fahrdrähten von Straßen- und S-Bahnen. Auch Handynetze sollen phasenweise abgeschaltet worden sein. Da fragt niemand, ob Eltern einen Notarzt für ihr Kind brauchen. Das Festnetz in Bad Doberan soll gestern merkwürdige Ausfälle gehabt haben.

Langsam können auch wir uns mit G-8 auseinandersetzen. Der Afrikaner, der gestern von spanischen Plantagen für LIDL berichtete ging unter die Gänsehaut. Wir hören aus der Petrikirche, dass Afrika-Thema bei G-8 enthalte nur die Investitionssicherung.

Aufklärung, die der Medienmainstream verschweigt: Dafür hatten wir uns ursprünglich auf die Gipfelgegner gefreut. Und um mit ihnen bunt und fröhlich zu feiern.

Heute ist ein Tag ohne Hubschrauber. Heute hatten wir Hofgang im Hochsicherheitstrakt.


Mittwoch, 6. Juni 2007
Auch heute ist es zunächst ruhig in der Kröpeliner Tor – Vorstadt. Die Frontlinie hat sich nach Heiligendamm verlagert. Ich bin immer noch schusselig, vergesse vieles, was ich machen sollte oder wollte. Wenigstens bin ich nicht wieder gegen die geschlossene Terrassentür gelaufen, weil ich vergessen hatte, sie aufzumachen. Vor allem im rechten Ohr ist noch keine Besserung eingetreten. Nach der Infusion tappe ich nach Hause, als wäre ich betrunken und schlafe ein wenig.

Danach gehe ich Spargel kaufen. Ich muss mich an der Luft bewegen, damit sich die innere Unruhe abbaut. Ich vergesse aber die anderen Zutaten einzukaufen, also gehe ich noch einmal los. Ich treffe einen befreundeten Radiomoderator, der mir erzählt, er wolle beim Verfassungsschutz den Abbau des Zaunes durchsetzen: „Die eingesperrten Menschen in Heiligen Damm sollen in ihrer Bewegungsfreiheit nicht beschnitten werden.“ Im Viertel setzt also langsam wieder der alte Humor ein.

Am Nachmittag darf der ältere Sohn (10) selbst zu einem Freund gehen. Auflage: Wenn es unruhig wird, anrufen und abwarten, bis ich komme. Normalerweise kann man sich hier selbst nachts ohne Angst durch das Viertel bewegen. Den Jüngeren hole ich aus dem Kindergarten ab. Auf dem Rückweg treffe ich mich mit meiner Frau und einer befreundeten Familie in einem Café. Die haben entspannte Gesichter, weil sie extra wegen der zu erwartenden Krawalle den Rückweg aus dem Urlaub hinausgezögert haben.

Draußen sitzen! Kein Lärm! Kinderlachen! Da kracht es. Schreck. Ängstliche Blicke zum nahen Markt herüber: Es wurden nur ein paar Obstkisten entsorgt. Entspannung. Neben den neusten Nachrichten von der Front, gibt es auch Gespräche über die Kinder. Hörner von Einsatzfahrzeugen. Wo? Wohin? Kommen die hierher? Sie fahren in der Ferne vorbei. Entspannung. Keine Normalität.

Die Krawalle überschatten die Themen, wo es doch die Informationen und Argumente der Gipfelkritiker tun sollten. Wir diskutieren, ob die 10 Monate Haft für den Stuttgarter nicht zu wenig gewesen seien. War es nicht versuchter Mord? Aber lässt sich das beweisen? Auch wenn immer wieder leise Kritik an Berliner Polizeieinheiten geäußert wird, die wohl für uns Mecklenburger etwas zu rabiat sein sollen, es gibt wohl keinen Bürger, der nicht insgesamt hinter den Polizeieinsätzen steht, der nicht die Polizisten und die Angst ihrer Angehörigen bedauert. Es ist gut, dass die hier sind.

Im August haben wir auf der „Hanse Sail“ über eine Millionen Gäste, dass ist ein riesiges Volksfest. Dies hier sollte auch eins werden, aber „unter 100 Leuten ist ein Arschloch; der bestimmt die Norm zum Nachteil aller“. Der alte Satz von mir bewahrheitet sich auch hier.

Das Demonstrationsrecht der vielen bunten friedlichen Gäste wird von wenigen Verbrechern ausgehebelt, weil sonst das nicht weniger werte Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit aller Menschen hier nicht gewährleistet werden kann. Menschen, die hier und im Internet Polizisten dieses Grundrecht absprechen, erheben sich über andere. Wenn sie so elitär sind, dass sie nur ihre eigenen Spielregeln anerkennen, sind sie Rassisten. Es wäre ehrlicher, wenn sie sich Hakenkreuze aufmalen.
Die linke Solidarität, die es in unserem Viertel gibt, haben sie sich längst verspielt.

Im Internet gibt es außerdem Menschen, die schreiben, die Krawalle wären gewesen, weil wir doch eine so hohe Arbeitslosigkeit hätten und die Frauen in den Westen weglaufen würden, „die hübschesten jedenfalls.“ Ein anderer: Rostock ziehe doch so etwas an. Wieder wird uns Lichtenhagen vorgehalten, als gäbe es nicht unsere Bewegung „bunt statt braun“, als hätten sich dem zahlenmäßig kleineren Naziaufmarsch im Mai vergangenen Jahres (viele von anderen Regionen) nicht tausende Rostocker zu einer friedlichen Kundgebung dagegen gestellt.

Ich möchte von der Bundesregierung als Veranstalter ein Schmerzensgeld für mich und meine Familie. Vielleicht finde ich jemanden, der mir dabei hilft:

Es gibt kein nationales oder internationales Recht, dass über dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit steht. Meines ist durch den Hubschraubereinsatz verletzt worden.

Da gilt auch nicht die Ausrede, dass dies aus polizeitaktischen Gründen nicht anders möglich gewesen wäre, oder dass zugereiste Straftäter dafür verantwortlich seien.

Die Bundesregierung (Gerhard Schröder, dann seine Nachfolgerin) hat als Veranstalter zum G-8-Gipfel geladen. Sie wusste dabei, dass G-8-Gipfel Straftäter anziehen. Sie muss dafür als Veranstalter im Rahmen der Gefährdungshaftung genauso verantwortlich sein, wie die Veranstalter von Bundesligaspielen für Hooligans oder die Veranstalter von Formel 1 Rennen für Lärmschutz und Schutz vor umherfliegenden Rennwagenteilen. Die Gegendemonstrationen, auch Gewalt gehören seit langem (siehe Genua) zu G-8-Veranstaltungen weltweit. Sie mussten und wurden bei der Einladung mit bedacht. Eine G-8-Veranstaltung ist aber aus vorgenannten Gründen kein höheres Rechtsgut, als mein Recht auf körperliche Unversehrtheit.

Die G-8-Veranstaltung musste auch nicht zwingend in unserer Region abgehalten werden: Ein schicker Kreuzliner in der Ost- oder Südsee wäre leichter zu bewachen kostengünstiger gewesen.

Der Hubschrauber über meinem Haus hat meine Ohren im Übrigen schon vor dem ersten Steinwurf beschädigt, aber das ist unerheblich. Vielmehr könnte zur Beweissicherung strafrechtlich geprüft werden, ob jemand und wer hier mindestens fahrlässige Körperverletzung begangen hat. Es gibt schließlich auch Lärmschutzvorschriften.

Vielleicht finde ich ja jemanden, der mir hilft, einen Schadenausgleich zu bekommen. Den könnten dann ebenfalls hörgeschädigte Mitbürger aus der Nachbarschaft dann auch erwirken.

Wir erwarten ab Morgen wieder Kriegshandlungen, Angriffe auf uns und Polizisten, die hirnlosen Straftäter sollen sich aus Westdeutschland, der Ukraine, aus Polen, Holland, Frankreich und Spanien zahlenmäßig verstärkt haben: Die Fernsehbilder haben da möglicherweise eine Sogwirkung.

Es geht auch das Gerücht, dass diese „Schwatten“ ihren Ostseeurlaub nach dem Gipfel etwas verlängern möchten. Oh bitte nein!


Donnerstag, 7. Juni 2007
Auf dem Rückweg vom Arzt winkt mich vor dem „Diesseits“ ein älterer Herr mit langen dunklen Haaren heran: „Bonndjuää!“ Französisch mit übertrieben norddeutschem Akzent, dazu ein Grinsen. „Du wirst heute Abend nicht zum Konzert gehen,“, sagt er. „Woher weißt Du das?“ Ich blicke ihm fragend in die Augen. Er nippt am Schaum seines Milchkaffees. „Du bist krank geschrieben, ich übrigens auch. Du aber musst glaubwürdig Betroffenheit erzeugen, auch wenn Du über Dich Dinge erzählst, die Du nur gut recherchiert weißt.“ „Woher weißt Du das?“ „Du glaubst zum Beispiel, mich im „Diesseits“ getroffen zu haben.“ „Haben wir das denn nicht?“ „Nö, an meinem Rechner.“ Wieder grinst er mich an. „Du bist eine Medienwirklichkeit, Du bist nur eine Perspektive von vielen Möglichen. Es gibt keine Wahrheit.“

„Ich habe im Fernsehen gesehen,“ protestiere ich, „wie Angelika Merkel nach dem ersten Treffen mit Bush gesagt hat, sie seien morgens die Punkte der Agenda noch einmal durchgegangen, die angesprochen werden sollten, warum sollte das zum Beispiel nicht Wahrheit sein“?

„Das war gelogen,“ sagte mein Gegenüber. „Hätte sie besser sagen sollen, wie gut sie sich verstanden haben?“ „Das ging nicht.“ „Wieso?“ „Das wäre gelogen,“ antwortet der Andere mit breitem Grinsen. „Du sprichst wie Ole Welzel.“ Er grinst vieldeutig und fährt fort: „Sie haben sich nicht gut verstanden, sonst hätten sie das gesagt. Man hat sich längst vorher auf die Punkte der Agenda verständigt, sonst wären sie ja schlecht vorbereitet gewesen.“

„Sind die beiden denn auch nur eine Medienwirklichkeit?“ „Sie sind perfekt inszeniert. Was glaubst Du denn, weshalb Du sie nicht selbst fragen darfst, weshalb sie dort eingesperrt worden sind?“ Ole Welzel beugt sich ein bischen nach vorn. „Der ganze Gipfel ist eine perfekte Inszenierung, die uns dazu bringt, das Klima und die Situation in der dritten Welt zu verbessern.“

„Aber die ganze Polizei und der schwarze Block ...,“ werfe ich ein. „Erhöhen die Einschaltquoten“ Ole Welzel nippt erneut an seinem Milchkaffee. „Stell Dir vor, es ist G-8 und niemand geht hin.

Die Diskussionen in der Petrikirche würden zu anderen Zeitpunkten und über Internet erfolgen, die Polizei käme nicht und deshalb auch nicht die, die Du „schwarzer Block nennst, ohne zu wissen, was das ursprünglich bedeutete. Der CO2-Ausstoß wäre übrigens erheblich geringer“. Ich denke einen Augenblick nach.

„Dann wären jetzt in diesem Augenblick in Heiligendamm politische Gefangene hinter Gittern.“
„Du lernst schnell,“ lobt mich Ole Welzel. „Sie haben nur Bedeutung durch die Auseinandersetzungen zwischen Polizei und möglichst brutalen Steinewerfern. Das ist ein medialer Wanderzirkus, der genau deshalb alle G-8-Events begleitet. Das haben sie damals von Stammheim gelernt.“

„Und was ist dann unsere Bedeutung?“ „Das hast Du doch selbst im Tagebuch geschrieben,“ antwortet Ole Welzel. „Du hast Dich benutzt gefühlt, so wie die dritte Welt. Dabei liegen in der Globalisierung auch Chancen. Du hast doch einen Internetanschluss, vielleicht kaufst Du auch schon anders ein. Du hast angefangen, nachzudenken. Du bist kritisch geworden. Dann hat der G-8-Gipfel doch ein wichtiges Ziel erreicht.“ Er legte Münzen auf die Untertasse, als wären wir in Frankreich, tippte grüßend an die Stirn und ging.


2 Tage später: Schlussbild
Die Möwen sind zurück. Jeder kennt sie hier mit Vornamen. Danach kamen die Autos wieder, man ärgert sich wieder über fehlende Parkplätze, lächelt sich an, bleibt hier und da zu einem kleinen Schwätzchen stehen, aus einem Fenster dringt Akkordeonmusik, im Fenster gegenüber singt jemand „je ne regrette rien“: Der Alltag ist zurück in dem kleinen Viertel am Stadthafen.

Aus den Nachbargärten hört man eine russische Mutter mit dem Kind sprechen, eine junge Pariserin telefoniert nach Hause, Grillgeruch steigt auf, Ein Mecklenburger telefoniert mit seinem Bruder: „Neee, jou, juou, wir sind auch im Garten, den Ball flach halten.“

Der Film geht zu Ende.
Ganz großes Kino, voller Dramen, Diven und ungeklärten Fragen. Die Acht Hauptdarsteller werden auch diesmal keinen Oscar dafür bekommen, die Kanzlerindarstellerin, die kleine Pastorentochter Merkel aus einem kleinen Städtchen jott wedeh im hintersten Wald hatte die Möglichkeit, mit den Weltstars essen zu gehen, George Double You bemühte sich fleißig, zu spät zu kommen, musste aber doch einsehen, dass man als Rockstar noch mehr können muss, der smarte Putin war froh, mitspielen zu dürfen, die anderen Darsteller sind schon fast wieder vergessen.

Was für ein Film: Wie bei „Braveheart“ war in dem dramatischen Schlachtgetümmel nie ganz klar, welcher Kämpfer gerade auf wessen Seite gehört. Die Polizei hatte selbst einen schwarzen Block, aber auch die, die normalerweise die schwarzen Uniformen tragen, fanden am Ende Steinewerfer in ihren Reihen, die eigentlich zur grünen Mannschaft gehören. Dramaturgisch zweifelhaft ist, weshalb Schloss Hohen Luckow nicht umzäunt war und dort weder schwarze noch grüne Widerstandskämpfer zu sehen waren. Hier hatte die Bühnengewerkschaft wohl einen Ruhetag verordnet. Wer nun gewonnen hat, wird wohl am grünen Tisch geklärt werden müssen.

Die Kosten für den symbolisch zertrümmerten LIDL wurden von den campnahen anderen Filialen des Konzerns längst wieder eingespielt, 80.000 Gäste, 18.000 Polizisten und 8 Touristen haben ein gutes Gewissen, „nun die Möglichkeit zu haben“, die Welt, insbesondere Afrika gerettet zu haben, auch wenn Biohafer und glückliche Kühe dies anders bewerten. Und die in Afrika fragt ja keiner.

Der Komparse aus Schwerin, der den Portier am Flughafen gespielt hatte, hat nun doch Feuer für das Metier gefangen und sucht nach neuen Rollen, er hält„bei entsprechenden finanziellen Absprachen mit dem Bund eine erneute Ausrichtung im Nordosten für denkbar: " Er dankte den anderen Komparsen in Heiligendamm, Kühlungsborn, Bad Doberan, Rostock und vielen kleineren Orten, die „überwiegend viel Verständnis für die Einschränkungen gezeigt hätten.“

Doch Schwerin ist weit weg von unserem kleinen Dorf mitten in der Stadt, gefühlt ist es so weit wie das Baskenland von Madrid oder Paris vom Lanquedoc, wo man immer schon aus Prinzip genau das Gegenteil von dem macht, was Paris verordnet.

Abspann:
Die „Suizid-Möwe“ stolziert an der Dachkante des gegenüberliegenden Hauses. Während sie kritisch das Grillgut aufden Balkonen darunter begutachtet, sieht sie aus, wie Selbstmörder in Kriminalfilmen.

Ole Welzel sitzt unten auf der Terrasse und begutachtet die Rohfassung. Es sind ein paar Längen im Mittelteil, ein paar Szenen müssen nachgedreht werden: Es fehlt ein Schuss Erotik. Vielleicht sollte nun doch die „schönste Polizistin“ Nicolle Franzke lasziv den Mannschaftsbus einseifen und von dem schönen Pressefotografen träumen, dessen Rolle noch unbesetzt ist. Die wird nun wahrscheinlich Sarkozy übernehmen, denn als französischer Staatspräsident ist er eine glatte Fehlbesetzung.

Ein paar Tage wird das Rohmaterial hier noch gesendet, dann beginnt der Mastercut, der in der „Kaffeepause“ erscheinen wird.

 

 

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