Samstag, 2.Juni 2007
Nun ist er also da, der G8-Gipfel. Uns Bürger in Rostock hatte
man nicht gefragt, ob wir ein großes Stück der Küste
abgeben wollen, ob wir 13 Millionen Euro für den dafür
erforderlichen Zaun bezahlen wollen, teurer als eine Wohnsiedlung
zu bauen, bei der viele Arbeit hätten. Die Polizei sagt, dass
sie die ganzen Auflagen auch nicht gewollt hätten, aber die
Amerikaner würden sonst nicht kommen. Es seien deren Auflagen.
Über 100 Millionen Euro soll der Gipfel kosten, das meiste
von unserem ärmsten aller Bundesländer bezahlt. Dabei
knabbern wir noch an der „privaten Einladung“ Angela
Merkels zur Grillparty nach Trinwillershagen vom Vorjahr.
Hier zahlt jeder seine privaten Partys selbst.
Deshalb verstehen wir Rostocker das nicht, auch nicht, weshalb man
sich nicht jetzt auf einem Flugzeugträger trifft. Da kommen
die Autonomen nicht hin und es kostet viel weniger. Aber wir ertragen
das neue Wandlitz mit Langmut, auch wenn der wirtschaftliche Nutzen
für uns nicht erkennbar ist, auch wenn im Gegenzug durch Kürzungen
bei der Bildung mehr qualifizierte Jugendliche das Land für
immer verlassen werden. „Halte den Ball flach,“ sagt
man hier und „wird schon.“ Seit 57 Jahren oder noch
länger ist man es gewohnt, „die da oben“ nicht
zu verstehen. Man nimmt das hin. Mecklenburg-Vorpommern ist ein
friedliches Land.
Deshalb sorgt man sich hier ängstlich, dass
es anders werden könnte: „Geschlossen wegen 8 Touristen“
steht auf einer Spanplattenwand in der Grubenstraße, die einmal
ein Schaufenster war, daneben beim vernagelten Nagelstudio: „Wir
feilen weiter“. Die Wäsche wird abgenommen, Kinder von
der Straße geholt. „Ich will ja keine Panik verbreiten,“
sprach eine Freundin, meldete die Tochter in der Schule ab und fuhr,
wie alle die konnten, zu ihren Eltern aufs Land. Wir nehmen es mit
Humor. Noch!
Parkplätze im Überfluss: Um 10 Uhr trifft
man im Szeneviertel weder Menschen noch Autos auf den leergefegten
Straßen. Wenn jetzt noch ein Mistelball um die Ecke wehen
würde, wäre es die perfekte Kulisse für einen Italo-Western,
denn es liegt eine gespenstige Stille im Viertel. Wie kommt die
atmosphärische Spannung in dieses friedliche Bild?
Die Stille wird durchbrochen: Wieder demonstriert
der Helikopter über dem Viertel Lufthoheit, wie in den Vortagen,
dröhnt lauter als jeder Rasenmäher, als gäbe es keine
Lärmschutzvorschriften für die Polizei, als gäbe
es keine anderen Möglichkeiten zur Beobachtung. Lärm macht
krank, macht langsam aggressiv. Gibt es noch ein paar Raketen von
Sylvester? Wo bekommt man Helium für die letzten Ballons vom
Kindergeburtstag, mit einem Zettel dran: „Ruhe!!!“.
Ich bin nach vier Stunden Helikopterlärm überreizt. Wie
weit reichen die Wasserpistolen der Kinder? Ansonsten ist hier alles
friedlich.
Die Familie beschließt, in den nahen Stadthafen
zu gehen. Dort sollen zu einem großen bunten Abschlussfest
„Juli“ und „Wir sind Helden“ spielen. Auch
Lärm. Aber mit der Anmutung von Musik. „Wenn’s
hilft.“ Der Geldautomat der Deutschen Bank hat „wegen
Renovierung“ geschlossen. Kein Monteur zu sehen. Aber die
Commerzbank daneben hält, was der Name verspricht.
Die Friedrichstraße runter zum Stadthafen
ist autofrei, das hatte es noch nie gegeben. Plötzlich rasen
mit Blaulicht und Horn 42 Mannschaftswagen an uns vorbei durch die
„Tempo 30-Zone“, schaffen gerade so die Kurve zum Stadthafen.
Ich reiße ich die Kinder zurück, brülle meine Frau
an, zum Glück wird niemand überfahren. Plötzlich
Angst! Das erste Horn habe ich noch eingesehen, aber warum müssen
auch alle anderen 41 Wagen bedrohlichen Lärm verursachen, der
sich gellend in meine Trommelfelle verbeißt wie eine übersteuerte
Soundanlage?
Meine Tochter schreit panisch im Kinderwagen, die
Jungs rufen aufgeregt, meine Frau kommentiert, der Tinitus in meinem
Ohr übertönt den Hubschrauber, Ich schreie die Wagen an:
„Ruhe!“ Sie hören nicht zu. Niemand hört mehr
zu, heutzutage. Ich bin hilflos diesem G-8-Gipfel ausgesetzt.
Man hat mich nicht gefragt. Dieser ständige Lärm. Nunmehr
6 Stunden dieser Hubschrauber über mir. Kein Entrinnen. Blanke
Nerven. Hätte ich die Frühstückseier für morgen
schon auf dem Hinweg gekauft, hier würden sie fliegen.
Hat schon einmal eines meiner Kinder gesehen, dass ich die Contenance
verliere? Jetzt kann die Wut nicht mehr unterdrücken. Martialischen
Fremden rasen vorbei, verfehlen uns knapp, wehe dem, der im Weg
steht, Motoren brüllen auf, Sirenentöne brechen sich,
kommen schrill als Echo zurück, bohren sich in mein Gehirn.
Sie rasen vorbei wie Hunnen, die in die Stadt einfallen, gepanzert,
schwarzvermummt. Ihre Angst sieht man nicht hinter den Visieren:
Menschen, auch wenn sie nicht so aussehen.
Man hat uns nicht gefragt, ob wir das alles wollen.
„Das ist Demokratie,“ höre ich meine Frau kommentieren,
sie zeigt auf das große Volksfest, dass sich nun vor uns am
Stadthafen zeigt: Bunte Menschen, auch ein bunter Flower-Power-Panzer,
alles Lärm.
Etwas weiter acht Menschen mit den Flaggen der
G8-Mitgliedsstaaten: „Blah blah, blahblahblah ... „rufen
sie in Handys und in die Menge, während sie weitere Glieder
für eine Kette schmieden, die einen stählerner Globus
bereits umhüllt, bewacht von einem Mann mit Stars and stripes.
Der wird wenig später ganz normal ein Dixie-Clo aufsuchen.
Was für ein Bild!
Ich ertrage es aber nicht mehr, irgendjemanden
zuzuhören, wünsche mir taub zu sein und noch immer hat
dieser verdammte Hubschrauber seit 6 Stunden die Lufthoheit über
meine Nerven und Trommelfelle.
Partylärm, Rasenmähen, Grillgeruch, alles
ist hier gesetzlich geregelt, sonst schreitet die Polizei ein. Da
sind vor dem Gesetz alle gleich, aber in den letzten Jahren sind
wohl einige gleicher geworden. In meiner Phantasie mache ich in
Handschellen ein Viktoryzeichen, wie es schöner nur Ackermann
kann, dahinter das rauchende Wrack des abgeschossenen Hubschraubers.
Wohin aber in der Wirklichkeit?
Etwas weiter bedient ein GI eine Ölförderpumpe,
während er eine Benzin-Zapfpistole wie eine Waffe in die Menge
richtet, um sie „in Schach“ zu halten. „Nur die
Arbeiterrevolution kann den Kapitalismus besiegen“, neue Flugblatt-Verteiler
nehmen zu, die Parolen sind alt. Um Arbeiter zu sein muss man wenigstens
Arbeit haben.
Auf der Bühne gibt es keine Musik, auch nicht
Juli oder „Wir sind Helden“. Reden, Grußadressen,
die alten Formeln. Wenigstens die Titel der gegrüßten
Personen nicht mehr so lang, es hat sich also etwas geändert.
Sonst ist alles gleich, auch der Hubschrauber.
Die Kinder frieren: 11°C, leichter Nieselregen
und sie wissen nicht, was das mit Demokratie zu tun hat. Auf der
B 105 neben dem Stadthafen blitzen die Blaulichter der unzähligen
Mannschaftswagen und der Wasserwerfer. Plötzlich, anscheinend
unmotiviert spritzen sie los. In die Menge. Angst macht aggressiv:
Wut kommt hoch und wird mühsam unterdrückt. Wir gehen
Eier kaufen. Zum Frühstück!
Gespenstige Stille in unserem Viertel, noch immer
kein Mistelball, kein Cowboy kommt um die Ecke, nur ein paar befreundete
Geschäftsleute, die ihre Läden bewachen und ein Hubschrauber
über mir.
Wir sehen zu Hause Fernsehbilder, die wir nicht
sehen wollten: 2000 Autonome unter 50.000 friedlichen Demonstranten.
Eine Demonstrantin brüllt einen Steinewerfer an: „Hört
auf“, der kommt auf sie zu: „mag disch platt ey!“.
Das bringt alles auf den Punkt!
Wieder sind es Zugereiste von oben und unten, die
den Ruf Rostocks demolieren: Das wird dem Tourismus wieder schaden,
wie damals in Lichtenhagen beim Sonneblumenhaus.
Tinitus im Ohr, Hubschrauberlärm bis in die
Wohnung, lauter als der Fernseher, meine Frau kommentiert den TV-Kommentator,
die Kinder fragen und reden, Geschirr. Alles gleich laut, alles
unerträglich. Ich gehe, um diesen Tag auf zu schreiben, aber
eigentlich gehe ich, um wenigstens einen Teil der Geräuschquellen
nicht zu haben. Dem Hubschrauber kann ich nicht entkommen, er brummt
durch die Wände und ab und zu knattern die Rotoren, dass die
Scheiben vibrieren.
Wir sind ein friedliches Land. Man hat uns nicht
gefragt, ob wir das alles wollen. Es ist 22.15 Uhr und noch immer
kreist lärmend dieser Hubschrauber. Ich werde Morgen das Haus
nicht verlassen. Ich will die Polizei schützen. Vor mir. Was
wäre, wenn mir einer eine Waffe in die Hand drückt?
Man hat uns nicht gefragt. Man macht einfach etwas
mit uns. Angeblich von uns legitimiert. Das ist es, was man den
G-8-Vertretern vorwirft. Weltweit. Auch den Autonomen. In Afrika
ist es noch schlimmer.
Ansonsten ist hier alles friedlich, auch wenn die
Fernsehbilder anderes zeigen. Auch nach Fußballspielen gibt
es einen gewissen Prozentsatz, der sich nicht beherrschen kann.
Wir können das alle hier. Wenn nur der Hubschrauber nicht wäre.
24 Uhr: Er fliegt seit 14 Stunden über mir. Noch. Morgen schieße
ich ihn ab... Oder doch nicht?
Sonntag, 3.Juni 2007
3°° Uhr: Der letzte Hubschrauber dreht ab. Endlich kann
man schlafen.
Morgens um 6.30°° sind die ersten Kinder wach. Sie haben
schlecht geschlafen. Wir alle sind durch den Wind. Auch bei der
ersten Zigarette draußen ist es nicht still: Es brummt in
der Frequenz des Hubschraubers in meinem Ohr. Höre ich einen
in der Ferne nur, setzt ein Pfeifen ein und meine Pulsfrequenz erhört
sich. Kündigt sich der nächste Hörsturz an?
Um 11°°Uhr geht es zum Brunch zur Schwägerin.
Es gibt nur ein Thema: Das, was alle die Zugereisten mit uns machen.
Nein, ich werde auch heute keinen Hubschrauber abschießen,
ich bin mit mehreren Polizisten befreundet. Aber wo soll ich hin
mit all den aufgestauten Aggressionen? Die Wut macht etwas mit uns,
wir aber entladen sie nur in der Phantasie.
Gewaltphantasien, die auf der Gewalt beruhen, die
wir erfahren. Auch andere bestätigen dies.
Es war heute morgen leer und ruhig in unserem Szeneviertel, gespenstig
ruhig, nicht friedlich ruhig. Die wenigen Menschen hatten alle angespannte
Gesichter, das heitere, freundliche Lachen, mit denen sich hier
sonst selbst die Grüßen, die sich nur vom Sehen kennen,
ist verschwunden. Die Stille hat „High-Noon Stimmung“.
G-8 hat uns Rostocker in Geiselhaft genommen. In Afrika macht ihr
es wohl noch schlimmer, aber dies reicht schon.
Seit gestern sind auch die letzten hier G-8-Gegner
geworden. Natürlich verurteilen wir alle zuerst die Autonomen.
Sie bekämpfen nicht den Staat, sondern uns: Auch in unserem
eher linken Viertel, in dem niemand wirklich reich ist, viele auch
arbeitslos, hat man unsere (!) Mülltonnen angezündet.
Es liegt Brandgeruch in der Luft. Direkt vor der Toreinfahrt unseres
Innenhofes liegt lindgrünes Auto-Krümelglas, dabei habe
nur 2 kleine armselige Autos dort geparkt, keine „Bonzenautos“,
wie die Autonomen sagen würden.
Alle Autonomen? Was gibt uns die Möglichkeit,
noch Unterschiede zu machen? Sie sind ja vermummt und sehen genauso
unmenschlich aus, wie die grünen Starwars-Krieger, deren menschliches
Antlitz, deren Angst man hinter den Visieren nicht erkennt. Aber
was wäre, wenn sie nicht so gerüstet wären?
Von uns Rostockern gibt es viel Respekt für die Polizei. Das
ändert nicht daran, dass wir meinen, dass auch sie zu unserer
Situation beitragen. Müssen. Aber nicht ertragbar. Wir wissen
seit gestern, wie sich das leicht luftige Wort anfühlt: Wir
sind Kolateralschaden!
Ich denke an den Motorradfahrer der Polizei aus
Hannover, den ich gestern, auf dem Rückweg vom Stadthafen an
der Kreuzung „Pati-Weg“/Friedrichstraße sah: Allein!!!
Angst war in seinem Gesicht. Klar: was wäre, wenn eine Gruppe
ihn von allen Seiten umzingeln würde? Er käme allein nicht
mehr weg und nach den Fernsehbildern ist nicht auszuschließen,
dass es Menschen gäbe, die ihn totschlagen würden. Ich
hatte extra laut zu meinen Söhnen gesagt:“ Der kommt
aus der Stadt, in der ich studiert habe.“ Da entspannte sich
sein Gesicht zu einem Lächeln. Für einen kurzen Moment.
Aber nun fliegt der Hubschrauber wieder. Der Tinitus
verstärkt sich, die Pulsfrequenz erhöht sich. Meine Hände
zittern. Ich bringe die Jungs nach Hause, allein sollen sie nicht
mehr gehen, die paar Meter. Sie sind nur noch quengelig, sie können
sich inzwischen nur noch schreiend verständigen und nicht mehr
zuhören. Und ich bin eigentlich ein ruhiger alter Mann, inzwischen
mit Hubschrauber-Allergie.
Nachmittags gehen wir durch unser bestbewachtetes
Viertel durch den nahen Lindenpark. Etwas Ruhe. Etwas nur. Hofgang.
Sie sind unausgeschlafen, quengelig, gereizt wie wir alle. Vor allem
müssen sie einmal raus und sich bewegen können, man kann
sie nicht immer nur einsperren: Eine Ahnung von Kriegsgebieten schleicht
sich ein.
Man hat uns nicht gefragt, ob wir das wollen. Merkel
kommt mit ihren Kollegen, wieder zahlen wir. Wir sollen Verständnis
dafür haben? In dem Wort Staatsgewalt hat der zweite Teil des
Wortes eine neue Bedeutung bekommen, riecht nach Zynismus. Angie
hat ihrer Partei in diesem Land einen Bärendienst erwiesen.
Das ist weder Wirtschaftsförderung noch Werbung,
es ist ihr Desaster in Rostock! Danke, Angie. Oder lädst Du
uns und unsere Nachbarn zum Ausgleich zu einer „Privatparty“
nach Trinwillershagen ein? (Ich meine: diesmal auf Deine Kosten?)
Schäbig und zynisch finden wir Dich inzwischen alle: So verhält
man nicht in unserem Land!
Abends schläft die Kleine, das Baby nicht.
Hubschrauberlärm, gellendes Babyschreien, gereizte Eltern.
Draußen skandiert eine Gruppe nach dem Jan Delay-Konzert irgendwo
„Haut ab!“ „Haut ab!“ „Haut ab!“
„Haut ab!“ „Haut ab!“ „Haut ab!“
Ja bitte! Alle!!! Haut alle ab: Die friedlichen
vielleicht, die Autonomen sowieso und bitte, liebe Polizei, auch
Eure Hubschrauber: Sie sind gesundheitsschädigend und zynisch.
Erst um Mitternacht kommen wir zur Ruhe.
Montag, 4. Juni 2007
5°° Aufstehen. Arbeitstag. Es brummt und pfeift im Ohr.
Die Knöchel dahinter schmerzen. Mir ist schwindelig. Ich fahre
früher los, weil ich nicht weiß, ob ich durchkomme. Es
fehlen 30% der Schüler. Einige kommen ab 5°°Uhr von
Rerik. Sie müssen durch Heiligendamm: Spiegel unter dem Bus,
Passagiere durch Sicherheitsschleusen. Der Bus kommt nicht pünktlich.
Der Busfahrer sagt, dass heute der letzte Bus schon mittags fährt.
Sie verpassen 2 Unterrichtsstunden. Der Bus kommt sonst nicht mehr
durch. Ein Land in Geiselhaft.
Ich bitte um etwas mehr Ruhe als sonst, erzähle
von dem Hubschrauber am Samstag.
In der 8. Stunde aber können sie nicht mehr. Ich dann auch
nicht. Das Brummen und Pfeifen im Ohr hört nicht mehr auf,
auch die Schmerzen in den Knochen dahinter nicht und die Schwindelanfälle.
Alle sind sich hier einig: Angela Merkel sollte
sich in der nächsten Zeit nicht mehr hier blicken lassen: „Sie
hat uns das eingebrockt!“ Das sagen Schüler und Lehrer.
Sie haben vergessen, dass es Schröder war
und Frau Merkel hier eitel die Sache benutzt. In Rostock ist ihr
das auf die Füße gefallen. Sie ist offensichtlich in
ganz Rostock und in allen Schichten unten genau so durch wie die
Autonomen: In einem Atemzug gemeinsam genannt.
Einer sagt: „In einer Diktatur würde
es so etwas nicht geben.“ Er meint die Autonomen. Das ist
es, was die erreichen.
Seit der 4. Stunde kreisen wieder die Hubschrauber
auch um unsere Schule. Ein Lager ist gleich in der Nähe. Freitag
war es der Rasenmäher, dann Hubschrauber. Ich lasse die Schüler
abskizzieren und abschreiben, denken und zuhören können
sie inzwischen nicht mehr. Immer wieder geht es darum, wie sie nach
Hause in ihre Dörfer kommen, ob die S-Bahn noch fährt.
Mache müssen nach Lichtenhagen und haben über ihre Handys
gehört, dass am Sonnenblumenhaus Wasserwerfer stehen. Wieder.
Wieder bringen fremde das Land in Misskredit. Weltweit.
Auf der Hamburger Straße komme ich um 15°°Uhr
auf dem Heimweg durch. Eine Einheit aus Mecklenburg-Strelitz schaltet
neben mir das Martinshorn an, ich falle zwar fast vom Fahrrad, aber
es sind nur die ersten zwei Wagen. Muss sein. Die anderen Wagen
fahren nur mit Blaulicht hinterher: Geht doch (siehe Freitag)! Ihr
Mecklenburger Landsleute, Danke! Ihr versteht uns!
Das Vorschulkind ist traurig, als ich es vom Kindergarten
abhole: Der Ausflug zum Imker nach Bargeshagen konnte nicht stattfinden.
Wegen G-8! Er weiß aus eigenem Erleben und aus den Logo-Nachrichten
(Kika), was dahinter steckt. Er hat inzwischen Angst vor „den
Demonstranten“ und der Polizei. Mama hatte gesagt, „Das
ist Demokratie“, als wir Samstag das bunte Volksfest am Stadthafen
besucht haben. Wahrgenommen hat er die Wasserwerfer und die 42 Mannschaftswagen,
die ihn beinahe überfahren hätten. Demokratieverständnis?
Danke Frau Merkel, dass sie uns und unserem Land so schön in
den Rücken fallen. Da gibt man sich als Eltern solche Mühe.....diese
Bilder werden hängen bleiben und etwas mit ihm machen.
Der größere ist verschlossener geworden,
agiert nur noch ziemlich stumm. Sein leiblicher Papa ist Kameramann,
er war für Phönix mitten zwischen den Autonomen, als es
anfing zu brennen. Er hat Angst um ihn.
Eine Tasse Kaffee nur, ich muss zur Unibibliothek
und dann zum Arzt. Ich komme gerade noch durch, am Ulmenmarkt, dann
geht schon wieder eine Demo los. Die Fernsehbilder muss ich nicht
kommentieren. Ich komme irgendwie durch mit dem Fahrrad, dass Auto
lasse ich seit Freitag im geschützten Innenhof stehen. Die
Zeit läuft mir davon: 16°°Uhr und noch immer keine
Pause seit heute Morgen. Am Ulmenmarkt fahren die Wasserwerfer auf.
Ich gehe zu Fuß zum Ohrenarzt in unserem
Viertel: Massiver Tinitus, kurz vor einem erneuten Hörsturz,
weiterer Gehörverlust von 10% seit dem Hörsturz vor einem
Jahr: Ich bin nicht der einzige, der heute damit krankgeschrieben
wird. Ich habe Nachbarn im Warteraum getroffen, auch Kinder.
Danke, Frau Merkel, danke auch den Hubschrauberpiloten. Wisst Ihr,
was ihr mit uns macht?
Ich muss an den Tropf: Infusion. Ich bin der letzte
Patient. „Gehen sie nach Hause und ruhen sie sich aus,“
hatte der Arzt gesagt. „Wie, wenn ein Hubschrauber über
dem Haus steht?“ Aber ich komme gar nicht erst raus: Vor dem
Haus bauen sich plötzlich zwei Wasserwerfer auf. Eine Sprechstundenhilfe
wird heute nicht nach Hause kommen: Die S-Bahn fährt nicht
mehr und ihr Mann kommt in das abgeriegelte Viertel nicht mehr rein.
Zum Glück hat sie eine Freundin in der Nähe. Der Arzt
muss jetzt zum Notdienst ins Bahnhofsviertel. Mit dem Fahrrad, anders
geht hier nichts mehr, auch durch den Lindenpark nicht. Wir alle
müssen warten. Draußen brennt es irgendwo, es riecht
versengt, wahrscheinlich imperialistische Mülltonnen „der
Bullen“ oder „des Staates“. Wir werden die Scheiße
wieder selbst einsammeln. Danke Gäste, Mecklenburg ist ein
gastfreundliches, weltoffenes Land.
Zu Hause komme ich nicht mehr zur Ruhe: Bis 23°°Uhr
lösen sich die Hubschrauber ab. Unser Baby schreit, kann nicht
einschlafen, die Jungs hören nicht mehr, sie brüllen nur
noch, ich kann auch nicht mehr und schreibe meinen Frust auf. Das
Arbeitszimmer ist der ruhigste Ort im Hubschrauberlärm, der
von oben kommt und von den Nachbarhäusern um uns verstärkend
reflektiert wird.
Immer wieder wenn der Ablösehubschrauber anfliegt
nehme ich einen 500 Watt Scheinwerfer und ziele auf sie: Guck mal,
hier ist ein Wohngebiet. Hier wohnen Bürger mit Kindern. Salo!
Akt der Verzweifelung. Dann stelle ich mir vor, dass mich dafür
wie bei den Blues Brothers schwarzvermummte Soldaten umzingeln,
festnehmen und in Isolierhaft bringen, wo es ganz still ist. Das
ist mir eine satirische, zugleich wunderschöne Phantasie geworden.
Oh bitte: Verhaftet mich. Sperrt mich ein. Dort wo es still ist.
Was muss ich dafür tun?
Ich bin mit den Nerven am Ende: 3 Tage Hubschrauberlärm
70-100m über mir. Drei Tage brummen und Pfeifen im Ohr, zu
wenig Schlaf. Das hält keiner aus. Das ist Psychoterror. Was
habe ich denn verbrochen, außer hier zu wohnen?
Das Baby schreit. Es schläft inzwischen nicht
mehr durch. Keine Erholung mehr für uns alle, auch dann nicht,
wenn wenigstens die Hubschrauber weg sind. Wie lange geht das noch
so?
Dienstag, 5. Juni
2007
7.30 Uhr: Leichter Regen fällt auf die Blätter, ein paar
Sonnenstrahlen geben dieser Idylle einen edlen Glanz. Es ist eine
friedlich Atmosphäre. So schön kann Regen sein, so schön
kann Rostock sein. Ich genieße die Ruhe: von dem Brummen und
Pfeifen in meinem Ohr abgesehen ist es ganz still. Stiller als sonst.
Die Vögel singen nicht mehr.
Wer von uns konnte, hat das Viertel verlassen.
In den Schulen fehlen 30% der Schüler, viele Geschäfte
sind geschlossen, vernagelt. Hier ist nicht Afghanistan, es fallen
uns keine Bomben auf den Kopf, unsere Häuser und Äcker
werden nicht verwüstet, aber wir haben eine Ahnung bekommen,
wie sich das anfühlt.
Ich bin fahrig geworden, laufe gegen eine geschlossene
Tür, vergesse die Infusionslösung zu besorgen, bevor ich
zum Arzt gehe. „Normalerweise haben wir immer welche auf Vorrat,“
sagt die Sprechstundenhilfe, „aber wir haben alles Verbraucht,
Es sind jetzt so viele hier.“ Ich gehe also wieder los. In
den Apotheken heißt es: „Die haben wir nicht mehr. Die
müssen wir bestellen. Heute Mittag, wenn der Lieferant durchkommt.
Gestern kam er nicht durch.“ In der fünften, entferntesten
bekomme ich schließlich das Rezept eingelöst.
„Mein Sohn, zehn Jahre, hat sich gestern
auf dem Heimweg von der Schule am Doberaner Platz eine Cola gekauft,“
erzählt eine Patientin. Draußen sei eine Rangelei gewesen.
Gerade als er das Getränk erhalten habe, seien zwei Polizisten
von hinten an ihn herangetreten und hätten ihm einen amtlichen
Zettel in die Hand gedrückt, erhabe die Stadt sofort zu verlassen
und dürfe sie erst Morgen wieder betreten. Wo er denn hin solle,
habe ihr Sohn gefragt, er würde doch hier wohnen. „Zehn
Jahre alt,“ bekräftigt sie noch einmal.
Andere berichten von willkürlichen Übergriffen
auf Passanten, Bürger dieses Viertels. Die Gereiztheit steigt
auf beiden Seiten. „Und heute Abend sitzen sie da wieder im
Fernsehen, Schäubele und Co., der Ringstorf, der Polizeisprecher,
beraten die richtige Kriegsführung, Gummigeschosse oder nicht?
„Niemand fragt in den Medien, wie es den Rostocker Bürgern
geht, niemand dankt für ihre Geduld. Wir kommen in den Medien
nicht vor,“ sagt „ein Tinitus“ im Warteraum des
Arztes.
„Täter sind Autonome, Opfer sind Polizisten,
wir sind nur die, die das bezahlen sollen,“ sagt einer. Und
die Merkel sagt gar nichts. Sie hat einen Wahlkreis in unserem Bundesland.
Die Sprechstundenhilfe kommt herein: „Die da oben sind doch
alle auf einem anderen Stern.“
„Gerade kam in den Nachrichten, der Bush
hat gesagt, ihn interessieren die Demonstranten nicht, er geht ja
heute Essen.“ Manche Gesichter ballen sich zur Faust, verbittert.
„Und wie die da reden, die da oben, die waren
doch nicht hier!“ In der Tat merkt man es den Kriegstaktikern
im Fernsehen an: Die Argumentation ist ideologisch, ihre Detailwissen
knapp.
„Um uns kümmert sich hier keiner, wir
dürfen nur bezahlen!“
Das Verständnis für die Polizisten weicht
am heutigen vierten Belagerungstag langsam auf. „Die sind
inzwischen auch genervt und gereizt,“ werfe ich ein. „Wir
auch!“ Politikverdrossenheit, auch Demokratieverdrossenheit
macht sich gerade unter den ältern breit. Am nächsten
Wahltag werden sich die Kandidaten wieder darüber wieder wundern,
auch über den Stimmenzuwachs bei der NPD. „Bis die da
oben aufwachen,“ sagt einer.
Wenn heute Ringstorf, ein Bundespolitiker oder
sogar die Merkel sich auf den Margaretenplatz stellen würde,
um mit uns zu sprechen, uns zu danken, der könnte punkten.
„Ich bin ein Rostocker!“, wird Bush heute nicht sagen.
„Wir sind Kolateralschaden!“, wird auch morgen die Bildzeitung
nicht titeln:
„Das ist doch wenig, verglichen mit dem,
was Eure Regime in der dritten Welt machen“, rechtfertigen
sich Autonome und wenn wir das Abbrennen unserer Autos und Mülltonnen
beklagen: „Ihr seid eben Spießer!“ „Wir
können Euch nur so schützen,“ werden die Hubschrauberpiloten
sagen. „Das ist Vorschrift“, sagen die grünen Starwarskrieger
„und Befehl.“ „Wir halten dafür unsere Knochen
hin!“ Die Merkel wird wieder gar nichts zu uns sagen.
„Aber warum seid ihr alle denn überhaupt
zu uns gekommen?“, fragen wir am 4. Tag der Geiselhaft.
Warum besetzt ihr unsere Stadt und führt Krieg gegen uns?
„Geht bitte. Alle!!! So schnell wie möglich,“
sagen viele, „und friedlich!“
Am Nachmittag fällt die Musikschule aus: „Zu
gefährlich“, auch der Ausflug der Vorschule. Die Kinder
sind traurig, ich weniger. Bei plötzlichen Krawallen am Doberaner
Platz sind Kinder zwischengeraten. Da nimmt niemand mehr Rücksicht
auf sie. Heute wird ein ruhiger Tag bleiben, in Rostock.
Eine befreundete Journalistin ist zu Besuch gekommen.
Sie erzählt von abgeschalteten Fahrdrähten von Straßen-
und S-Bahnen. Auch Handynetze sollen phasenweise abgeschaltet worden
sein. Da fragt niemand, ob Eltern einen Notarzt für ihr Kind
brauchen. Das Festnetz in Bad Doberan soll gestern merkwürdige
Ausfälle gehabt haben.
Langsam können auch wir uns mit G-8 auseinandersetzen.
Der Afrikaner, der gestern von spanischen Plantagen für LIDL
berichtete ging unter die Gänsehaut. Wir hören aus der
Petrikirche, dass Afrika-Thema bei G-8 enthalte nur die Investitionssicherung.
Aufklärung, die der Medienmainstream verschweigt:
Dafür hatten wir uns ursprünglich auf die Gipfelgegner
gefreut. Und um mit ihnen bunt und fröhlich zu feiern.
Heute ist ein Tag ohne Hubschrauber. Heute hatten
wir Hofgang im Hochsicherheitstrakt.
Mittwoch, 6. Juni 2007
Auch heute ist es zunächst ruhig in der Kröpeliner Tor
– Vorstadt. Die Frontlinie hat sich nach Heiligendamm verlagert.
Ich bin immer noch schusselig, vergesse vieles, was ich machen sollte
oder wollte. Wenigstens bin ich nicht wieder gegen die geschlossene
Terrassentür gelaufen, weil ich vergessen hatte, sie aufzumachen.
Vor allem im rechten Ohr ist noch keine Besserung eingetreten. Nach
der Infusion tappe ich nach Hause, als wäre ich betrunken und
schlafe ein wenig.
Danach gehe ich Spargel kaufen. Ich muss mich an der Luft bewegen,
damit sich die innere Unruhe abbaut. Ich vergesse aber die anderen
Zutaten einzukaufen, also gehe ich noch einmal los. Ich treffe einen
befreundeten Radiomoderator, der mir erzählt, er wolle beim
Verfassungsschutz den Abbau des Zaunes durchsetzen: „Die eingesperrten
Menschen in Heiligen Damm sollen in ihrer Bewegungsfreiheit nicht
beschnitten werden.“ Im Viertel setzt also langsam wieder
der alte Humor ein.
Am Nachmittag darf der ältere Sohn (10) selbst zu einem Freund
gehen. Auflage: Wenn es unruhig wird, anrufen und abwarten, bis
ich komme. Normalerweise kann man sich hier selbst nachts ohne Angst
durch das Viertel bewegen. Den Jüngeren hole ich aus dem Kindergarten
ab. Auf dem Rückweg treffe ich mich mit meiner Frau und einer
befreundeten Familie in einem Café. Die haben entspannte
Gesichter, weil sie extra wegen der zu erwartenden Krawalle den
Rückweg aus dem Urlaub hinausgezögert haben.
Draußen sitzen! Kein Lärm! Kinderlachen! Da kracht es.
Schreck. Ängstliche Blicke zum nahen Markt herüber: Es
wurden nur ein paar Obstkisten entsorgt. Entspannung. Neben den
neusten Nachrichten von der Front, gibt es auch Gespräche über
die Kinder. Hörner von Einsatzfahrzeugen. Wo? Wohin? Kommen
die hierher? Sie fahren in der Ferne vorbei. Entspannung. Keine
Normalität.
Die Krawalle überschatten die Themen, wo es doch die Informationen
und Argumente der Gipfelkritiker tun sollten. Wir diskutieren, ob
die 10 Monate Haft für den Stuttgarter nicht zu wenig gewesen
seien. War es nicht versuchter Mord? Aber lässt sich das beweisen?
Auch wenn immer wieder leise Kritik an Berliner Polizeieinheiten
geäußert wird, die wohl für uns Mecklenburger etwas
zu rabiat sein sollen, es gibt wohl keinen Bürger, der nicht
insgesamt hinter den Polizeieinsätzen steht, der nicht die
Polizisten und die Angst ihrer Angehörigen bedauert. Es ist
gut, dass die hier sind.
Im August haben wir auf der „Hanse Sail“ über
eine Millionen Gäste, dass ist ein riesiges Volksfest. Dies
hier sollte auch eins werden, aber „unter 100 Leuten ist ein
Arschloch; der bestimmt die Norm zum Nachteil aller“. Der
alte Satz von mir bewahrheitet sich auch hier.
Das Demonstrationsrecht der vielen bunten friedlichen Gäste
wird von wenigen Verbrechern ausgehebelt, weil sonst das nicht weniger
werte Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit aller Menschen
hier nicht gewährleistet werden kann. Menschen, die hier und
im Internet Polizisten dieses Grundrecht absprechen, erheben sich
über andere. Wenn sie so elitär sind, dass sie nur ihre
eigenen Spielregeln anerkennen, sind sie Rassisten. Es wäre
ehrlicher, wenn sie sich Hakenkreuze aufmalen.
Die linke Solidarität, die es in unserem Viertel gibt, haben
sie sich längst verspielt.
Im Internet gibt es außerdem Menschen, die schreiben, die
Krawalle wären gewesen, weil wir doch eine so hohe Arbeitslosigkeit
hätten und die Frauen in den Westen weglaufen würden,
„die hübschesten jedenfalls.“ Ein anderer: Rostock
ziehe doch so etwas an. Wieder wird uns Lichtenhagen vorgehalten,
als gäbe es nicht unsere Bewegung „bunt statt braun“,
als hätten sich dem zahlenmäßig kleineren Naziaufmarsch
im Mai vergangenen Jahres (viele von anderen Regionen) nicht tausende
Rostocker zu einer friedlichen Kundgebung dagegen gestellt.
Ich möchte von der Bundesregierung als Veranstalter ein Schmerzensgeld
für mich und meine Familie. Vielleicht finde ich jemanden,
der mir dabei hilft:
Es gibt kein nationales oder internationales Recht, dass über
dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit steht. Meines
ist durch den Hubschraubereinsatz verletzt worden.
Da gilt auch nicht die Ausrede, dass dies aus polizeitaktischen
Gründen nicht anders möglich gewesen wäre, oder dass
zugereiste Straftäter dafür verantwortlich seien.
Die Bundesregierung (Gerhard Schröder, dann seine Nachfolgerin)
hat als Veranstalter zum G-8-Gipfel geladen. Sie wusste dabei, dass
G-8-Gipfel Straftäter anziehen. Sie muss dafür als Veranstalter
im Rahmen der Gefährdungshaftung genauso verantwortlich sein,
wie die Veranstalter von Bundesligaspielen für Hooligans oder
die Veranstalter von Formel 1 Rennen für Lärmschutz und
Schutz vor umherfliegenden Rennwagenteilen. Die Gegendemonstrationen,
auch Gewalt gehören seit langem (siehe Genua) zu G-8-Veranstaltungen
weltweit. Sie mussten und wurden bei der Einladung mit bedacht.
Eine G-8-Veranstaltung ist aber aus vorgenannten Gründen kein
höheres Rechtsgut, als mein Recht auf körperliche Unversehrtheit.
Die G-8-Veranstaltung musste auch nicht zwingend in unserer Region
abgehalten werden: Ein schicker Kreuzliner in der Ost- oder Südsee
wäre leichter zu bewachen kostengünstiger gewesen.
Der Hubschrauber über meinem Haus hat meine Ohren im Übrigen
schon vor dem ersten Steinwurf beschädigt, aber das ist unerheblich.
Vielmehr könnte zur Beweissicherung strafrechtlich geprüft
werden, ob jemand und wer hier mindestens fahrlässige Körperverletzung
begangen hat. Es gibt schließlich auch Lärmschutzvorschriften.
Vielleicht finde ich ja jemanden, der mir hilft, einen Schadenausgleich
zu bekommen. Den könnten dann ebenfalls hörgeschädigte
Mitbürger aus der Nachbarschaft dann auch erwirken.
Wir erwarten ab Morgen wieder Kriegshandlungen, Angriffe auf uns
und Polizisten, die hirnlosen Straftäter sollen sich aus Westdeutschland,
der Ukraine, aus Polen, Holland, Frankreich und Spanien zahlenmäßig
verstärkt haben: Die Fernsehbilder haben da möglicherweise
eine Sogwirkung.
Es geht auch das Gerücht, dass diese „Schwatten“
ihren Ostseeurlaub nach dem Gipfel etwas verlängern möchten.
Oh bitte nein!
Donnerstag, 7. Juni 2007
Auf dem Rückweg vom Arzt winkt mich vor dem „Diesseits“
ein älterer Herr mit langen dunklen Haaren heran: „Bonndjuää!“
Französisch mit übertrieben norddeutschem Akzent, dazu
ein Grinsen. „Du wirst heute Abend nicht zum Konzert gehen,“,
sagt er. „Woher weißt Du das?“ Ich blicke ihm
fragend in die Augen. Er nippt am Schaum seines Milchkaffees. „Du
bist krank geschrieben, ich übrigens auch. Du aber musst glaubwürdig
Betroffenheit erzeugen, auch wenn Du über Dich Dinge erzählst,
die Du nur gut recherchiert weißt.“ „Woher weißt
Du das?“ „Du glaubst zum Beispiel, mich im „Diesseits“
getroffen zu haben.“ „Haben wir das denn nicht?“
„Nö, an meinem Rechner.“ Wieder grinst er mich
an. „Du bist eine Medienwirklichkeit, Du bist nur eine Perspektive
von vielen Möglichen. Es gibt keine Wahrheit.“
„Ich habe im Fernsehen gesehen,“ protestiere ich, „wie
Angelika Merkel nach dem ersten Treffen mit Bush gesagt hat, sie
seien morgens die Punkte der Agenda noch einmal durchgegangen, die
angesprochen werden sollten, warum sollte das zum Beispiel nicht
Wahrheit sein“?
„Das war gelogen,“ sagte mein Gegenüber. „Hätte
sie besser sagen sollen, wie gut sie sich verstanden haben?“
„Das ging nicht.“ „Wieso?“ „Das wäre
gelogen,“ antwortet der Andere mit breitem Grinsen. „Du
sprichst wie Ole Welzel.“ Er grinst vieldeutig und fährt
fort: „Sie haben sich nicht gut verstanden, sonst hätten
sie das gesagt. Man hat sich längst vorher auf die Punkte der
Agenda verständigt, sonst wären sie ja schlecht vorbereitet
gewesen.“
„Sind die beiden denn auch nur eine Medienwirklichkeit?“
„Sie sind perfekt inszeniert. Was glaubst Du denn, weshalb
Du sie nicht selbst fragen darfst, weshalb sie dort eingesperrt
worden sind?“ Ole Welzel beugt sich ein bischen nach vorn.
„Der ganze Gipfel ist eine perfekte Inszenierung, die uns
dazu bringt, das Klima und die Situation in der dritten Welt zu
verbessern.“
„Aber die ganze Polizei und der schwarze Block ...,“
werfe ich ein. „Erhöhen die Einschaltquoten“ Ole
Welzel nippt erneut an seinem Milchkaffee. „Stell Dir vor,
es ist G-8 und niemand geht hin.
Die Diskussionen in der Petrikirche würden zu anderen Zeitpunkten
und über Internet erfolgen, die Polizei käme nicht und
deshalb auch nicht die, die Du „schwarzer Block nennst, ohne
zu wissen, was das ursprünglich bedeutete. Der CO2-Ausstoß
wäre übrigens erheblich geringer“. Ich denke einen
Augenblick nach.
„Dann wären jetzt in diesem Augenblick in Heiligendamm
politische Gefangene hinter Gittern.“
„Du lernst schnell,“ lobt mich Ole Welzel. „Sie
haben nur Bedeutung durch die Auseinandersetzungen zwischen Polizei
und möglichst brutalen Steinewerfern. Das ist ein medialer
Wanderzirkus, der genau deshalb alle G-8-Events begleitet. Das haben
sie damals von Stammheim gelernt.“
„Und was ist dann unsere Bedeutung?“ „Das hast
Du doch selbst im Tagebuch geschrieben,“ antwortet Ole Welzel.
„Du hast Dich benutzt gefühlt, so wie die dritte Welt.
Dabei liegen in der Globalisierung auch Chancen. Du hast doch einen
Internetanschluss, vielleicht kaufst Du auch schon anders ein. Du
hast angefangen, nachzudenken. Du bist kritisch geworden. Dann hat
der G-8-Gipfel doch ein wichtiges Ziel erreicht.“ Er legte
Münzen auf die Untertasse, als wären wir in Frankreich,
tippte grüßend an die Stirn und ging.
2 Tage später: Schlussbild
Die Möwen sind zurück. Jeder kennt sie hier mit Vornamen.
Danach kamen die Autos wieder, man ärgert sich wieder über
fehlende Parkplätze, lächelt sich an, bleibt hier und
da zu einem kleinen Schwätzchen stehen, aus einem Fenster dringt
Akkordeonmusik, im Fenster gegenüber singt jemand „je
ne regrette rien“: Der Alltag ist zurück in dem kleinen
Viertel am Stadthafen.
Aus den Nachbargärten hört man eine russische Mutter
mit dem Kind sprechen, eine junge Pariserin telefoniert nach Hause,
Grillgeruch steigt auf, Ein Mecklenburger telefoniert mit seinem
Bruder: „Neee, jou, juou, wir sind auch im Garten, den Ball
flach halten.“
Der Film geht zu Ende.
Ganz großes Kino, voller Dramen, Diven und ungeklärten
Fragen. Die Acht Hauptdarsteller werden auch diesmal keinen Oscar
dafür bekommen, die Kanzlerindarstellerin, die kleine Pastorentochter
Merkel aus einem kleinen Städtchen jott wedeh im hintersten
Wald hatte die Möglichkeit, mit den Weltstars essen zu gehen,
George Double You bemühte sich fleißig, zu spät
zu kommen, musste aber doch einsehen, dass man als Rockstar noch
mehr können muss, der smarte Putin war froh, mitspielen zu
dürfen, die anderen Darsteller sind schon fast wieder vergessen.
Was für ein Film: Wie bei „Braveheart“ war in
dem dramatischen Schlachtgetümmel nie ganz klar, welcher Kämpfer
gerade auf wessen Seite gehört. Die Polizei hatte selbst einen
schwarzen Block, aber auch die, die normalerweise die schwarzen
Uniformen tragen, fanden am Ende Steinewerfer in ihren Reihen, die
eigentlich zur grünen Mannschaft gehören. Dramaturgisch
zweifelhaft ist, weshalb Schloss Hohen Luckow nicht umzäunt
war und dort weder schwarze noch grüne Widerstandskämpfer
zu sehen waren. Hier hatte die Bühnengewerkschaft wohl einen
Ruhetag verordnet. Wer nun gewonnen hat, wird wohl am grünen
Tisch geklärt werden müssen.
Die Kosten für den symbolisch zertrümmerten LIDL wurden
von den campnahen anderen Filialen des Konzerns längst wieder
eingespielt, 80.000 Gäste, 18.000 Polizisten und 8 Touristen
haben ein gutes Gewissen, „nun die Möglichkeit zu haben“,
die Welt, insbesondere Afrika gerettet zu haben, auch wenn Biohafer
und glückliche Kühe dies anders bewerten. Und die in Afrika
fragt ja keiner.
Der Komparse aus Schwerin, der den Portier am Flughafen gespielt
hatte, hat nun doch Feuer für das Metier gefangen und sucht
nach neuen Rollen, er hält„bei entsprechenden finanziellen
Absprachen mit dem Bund eine erneute Ausrichtung im Nordosten für
denkbar: " Er dankte den anderen Komparsen in Heiligendamm,
Kühlungsborn, Bad Doberan, Rostock und vielen kleineren Orten,
die „überwiegend viel Verständnis für die Einschränkungen
gezeigt hätten.“
Doch Schwerin ist weit weg von unserem kleinen Dorf mitten in der
Stadt, gefühlt ist es so weit wie das Baskenland von Madrid
oder Paris vom Lanquedoc, wo man immer schon aus Prinzip genau das
Gegenteil von dem macht, was Paris verordnet.
Abspann:
Die „Suizid-Möwe“ stolziert an der Dachkante des
gegenüberliegenden Hauses. Während sie kritisch das Grillgut
aufden Balkonen darunter begutachtet, sieht sie aus, wie Selbstmörder
in Kriminalfilmen.
Ole Welzel sitzt unten auf der Terrasse und begutachtet die Rohfassung.
Es sind ein paar Längen im Mittelteil, ein paar Szenen müssen
nachgedreht werden: Es fehlt ein Schuss Erotik. Vielleicht sollte
nun doch die „schönste Polizistin“ Nicolle Franzke
lasziv den Mannschaftsbus einseifen und von dem schönen Pressefotografen
träumen, dessen Rolle noch unbesetzt ist. Die wird nun wahrscheinlich
Sarkozy übernehmen, denn als französischer Staatspräsident
ist er eine glatte Fehlbesetzung.
Ein paar Tage wird das Rohmaterial hier noch gesendet, dann
beginnt der Mastercut, der in der „Kaffeepause“ erscheinen
wird.
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